Samstag, 14. Juni 2014

Lebensmittel versus Nahrungsmittel


Ab und zu denke ich nach über unsere Gesellschaft, wie sie sich wandelt, wie sie sich gewandelt hat, wie sie sich in Zukunft wandeln wird. Manche Dinge erfüllen mich mit Freude, andere mit grosser Sorge, was dazu führt, dass ich meinem Hirn befehle gleich wieder aufzuhören mit dem Denkprozess.

Oft scheint mir, dass unsere Gesellschaft sich von sich selber entfernt, spontan fällt mir das Adjektiv „gehaltlos“ ein. Wir Menschen handeln häufig sehr rücksichts- oder gedankenlos, sei es gegenüber unseren Mitmenschen, aber auch gegenüber unserer Umwelt und unserer Natur. Je länger ich darüber nachdenke, desto lauter möchte ich Stopp schreien, weil mir scheint, dass es so nicht weiter gehen kann. 

Wenn jeder Mensch nur noch sich selber im Zentrum sieht (ich schliesse mich nicht aus), nicht mehr überlegt, dass seine Handlungen immer Interaktionen sind und bei irgendjemanden etwas auslösen oder etwas kaputt machen, wenn uns nicht mehr klar ist, dass wir keine in sich abgeschlossenen Wesen sind, sondern den Bezug zur Aussenwelt brauchen (oder zumindest nie ganz ausschliessen können), wenn wir meinen, dass wir genug stark sind und nichts und niemanden brauchen, dann geht es wohl abwärts mit uns.

Ich mache einen kleinen Exkurs in die Tier- und Pflanzenwelt: Tiere und Pflanzen sind unglaublich anpassungsfähig. Verändert sich ihre Umwelt, suchen sie sich einen Weg, um trotz widriger Umstände überleben zu können. Sie machen kleinere Blätter, sie ändern ihre Verdauungstaktik, sie werden kleiner, grösser, je nachdem, was es braucht, damit ihre Art überleben kann. Diese Anpassungen sind nicht sofort sichtbar, sondern entwickeln sich meist über viele Jahrzehnte, Jahrhunderte oder Jahrtausende.

Der Mensch zählt, zumindest für mich, ebenfalls zur Natur (auch wenn er sich so gesehen selber zerstört), folgedessen passt auch er sich seiner Umwelt laufend an. Spinne ich diesen Gedanken weiter, heisst das, es geschehen ununterbrochen kleine Dinge mit uns, die wir weder spüren noch sehen, aber die es uns ermöglichen, uns besser zurecht zu finden in unserer sich ständig ändernder Umgebung. Wir können nicht davon ausgehen, dass sich nur Tiere und Pflanzen neuen Bedingungen anpassen, sondern wir machen das ebenso, ganz automatisch und unaufhaltsam. Es ist auch nicht so, dass wir diesbezüglich auch nur ein winziges Detail selber steuern könnten, wir sind machtlos (merken das aber zum Glück nicht), trotz unseres grossen neuen Wissens.
Einige dieser Anpassungen, die sich auf einer ganz anderen Ebene und auch viel kurzfristiger zeigen, sind zum Beispiel in unserem Sprachgebrauch zu finden. Für mich ein unglaublich erschreckendes, aber auch sehr eindeutiges, Beispiel ist unser Umgang mit Essen, was auf den ersten Blick nichts mit Sprache zu tun hat. Allerdings wirklich nur auf den ersten Blick. 

Noch vor wenigen Jahrzehnten kamen die Menschen über den Mittag von der Arbeit nach Hause, nahmen mit der Familie gemeinsam eine (selbst gekochte, sasisonale) Mahlzeit ein  und gingen dann frisch gestärkt wieder an die Arbeit. Wir hingegen verpflegen uns über Mittag meist in aller Kürze irgendwo auf der Strasse mit einem gekauften Sandwich, mit Fast Food, mit einem Tagesmenu in der Kantine. Danach kehren wir wieder ins Büro, in den Hörsaal oder wohin auch immer zurück und fühlen uns unglaublich müde. Wir möchten nichts lieber als uns hinlegen und ein wenig die Augen schliessen. 
Was hat sich geändert? Heute schieben wir über Mittag meist einfach etwas in den Mund, um uns zu ernähren, Ziel ist die reine und möglichst zeitsparende Sättigung. Nicht der Genuss am Essen oder die Stärkung für den Nachmittag, das „Wieder-lebendig-werden“ steht im Vordergrund, sondern das reine Bauchfüllen. Wir gehen sehr sorglos mit uns selber um, wir nehmen nicht wahr, wie sehr wir unseren Körper (in diesem Moment den Verdauungstrakt) mit diesem Verhalten belasten. 

Heute kaufen wir Nahrungsmittel, früher hiess das Lebensmittel. Frappant, wie unterschiedlich das klingt. Und noch frappanter, wie klar es unser Verhältnis zur Ernährung aufzeigt.

So gibt es wohl unzählige kleine Dinge, denen wir uns anpassen, wir lassen Begriffe verschwinden, die nicht mehr zu uns passen (Lebensmittel), wir erfinden neue, die besser passen (Nahrungsmittel). Dies ist natürlich ein unbedeutendes Vorkommnis, allerdings eins, das wir beobachten können. Ganz viele andere dieser Anpassungen nehmen wir nicht wahr, können uns derer nicht bewusst werden.
Wie wir wohl in 100 Jahren aussehen? Wird unser Darm sich an die geänderten Bedingungen angepasst haben? Brauchen wir überhaupt noch so lange Beine, oder Zehen, wenn wir doch die grössten Strecken mit dem Auto zurücklegen? Brauchen wir noch Haare? Vielleicht brauchen wir auch keine Zähne mehr, weil wir nicht mehr essen müssen, sondern das Essen in Tablettenform verabreicht wird?
So genau möchte ich mir das gar nicht vorstellen, und zum Glück wissen wir nicht, wie wir uns weiter entwickeln. Ich geniesse auf jeden Fall jede meiner Mahlzeiten bewusster, seit ich festgestellt habe, dass sich mein Sprachgebrauch dem Essverhalten der meisten westlichen Menschen angepasst hat, ungewollt, unmerklich, schleichend.


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