Mittwoch, 16. April 2014

Irreale Realität oder reale Irrealität? Kunst im Warteraum!



Zurzeit kann die Zugverbindung nicht schlecht genug sein, ich lechze richtiggehend nach Wartezeiten am Bahnhof Winterthur. Normalerweise wäre das ein äusserst besorgniserregender Zustand, nicht aber in diesem Frühling. Im Rahmen des 750-Jahr Jubiläums der Stadt Winterthur hat sich dort eine Kunstinstallation im Wartehäuschen der SBB niedergelassen. Seit sie dort die Realität ein bisschen irrealer, aber auch die Irrealität ein bisschen realer macht, finde ich mich häufiger als sonst auf dem Perron 4/5, die Wartezeit ist plötzlich zu kurz, ich nehme sogar ab und zu einen späteren Zug, nur um noch ein wenig länger im Warteraum sein zu können.

Natürlicherweise fehlt es diesen „Schutz“-Räumen ein wenig an Charme, an Wärme, von Faszination ganz zu schweigen. In Winterthur jedoch, da nimmt einen dieses Glashäuschen plötzlich gefangen, man pfercht sich freiwillig mit einigen anderen Fremdlingen auf wenige Quadratmeter. Und es ist die Qual wert, die so gar keine Qual mehr ist, sobald einen die Atmosphäre das Drumherum vergessen lässt.

Im Warteraum sitzen 5 Personen, ursprünglich kamen sie wohl als gewöhnliche Schaufensterpuppen zur Welt. Nun sitzen sie dort, mit ihrem Gepäck vor sich auf dem Boden, und beginnen ein Gespräch. Nichts Besonderes? Oh doch! Diese fünf Personen verkörpern nämlich insgesamt 20 verschiedene Charaktere unterschiedlicher Couleur. Sie wechseln nicht nur die Gesichtsfarbe, sondern sind mal Mann, mal Frau, mal Südländer, mal dunkelhäutig, mal mit Bart, mal mit eingefallenen Wangen, mal Walliser, mal Berner, mal Thurgauer. Je nach Beamereinstellung (welcher unsichtbar vor jeder Figur installiert ist) wechseln die Persönlichkeiten, ihre Gesichter, zeitgleich mit dem Dialekt.


Von aussen kann man wunderbar beobachten, wie sich die Gesichtszüge verändern, wie die Personen sich in Sekundenschnelle verwandeln. Aber so richtig spannend wird es erst im Warteraum drin. Dort folgt man dem Gespräch, hochphilosophisch, und doch so real. Wer sind wir? Haben wir uns im Gewirr unserer elektronischen Welt gänzlich verloren? Oder besteht noch Chance zu überleben, indem wir uns wieder finden? Wohin wollen wir, wohin müssen wir wollen? Woher kommen wir, und warum sind wir hier?

Fragen über Fragen, in einer Umgebung, von der ich mich  nur schlecht trennen kann, weil ich zeitverloren im Raum stehe, mit den Personen mitüberlege, den Antworten lausche, mal lache, mal beinahe weine, den Zug verpasse. Nur zu gerne würde ich wissen, wie die beiden Künstler diese unglaublichen Installationen zur Realität werden lassen, die Augen zum Leben erwecken, die Nasenflügel in Bewegung bringen, die Lippen formen. Ich kann mir schlicht nicht vorstellen, wie ein Lichtstrahl derartige Veränderungen bewirken kann, wie sich ihre Augen menschengleich bewegen, wie die Lippenbewegungen absolut perfekt dem abgespielten Text entsprechen. Aber vielleicht ist es auch schöner einfach nur zu Staunen, ohne zu wissen wie die Magie entsteht.

Ein Besuch auf dem Perron 4/5 lohnt sich, auch wenn ein SBB-Wartehäuschen normalerweise nicht eines Zugfahrers Wunschdestination ist. Einfach unbedingt beim Umsteigen einen späteren Zug einplanen, denn ich zumindest kann mich auch nach wiederholten Besuchen immer noch nicht losreissen, nur weil mein Zug abfahrbereit auf Perron 4/5 steht.






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